The Gaza Project

Reporter im Fadenkreuz

In keinem anderen Konflikt sind innerhalb so kurzer Zeit so viele Journalisten und Journalistinnen getötet worden wie zuletzt im Gazastreifen. Israel bestreitet, Reporter gezielt zu töten. Doch eine internationale Recherche wirft Zweifel auf.

Von Christo Buschek, Maria Christoph, Dajana Kollig, Frederik Obermaier und Maria Retter

Hamza Al-Dahdouh stirbt am 7. Januar nahe Khan Younis. Gerade noch hat der 27-jährige Al-Jazeera-Journalist im südlichen Gazastreifen die Folgen eines nächtlichen Luftangriffs dokumentiert. Ein Kollege hat mit einer Drohne den Schutthaufen gefilmt, der zuvor ein Mehrfamilienhaus war, ebenso die eingetrockneten Blutspuren und jene Männer, die noch immer nach Überlebenden graben; und nach den Toten. 

 

Keine Stunde später sind Al-Dahdoud und sein Kollege nicht mehr am Leben. Auf dem Weg zum nächsten Dreh trifft eine Rakete den Kleinwagen, in dem sie sitzen. Sie sind Nummer 79 und 80 auf der immer länger werdenden Liste von Journalistinnen und Journalisten, die seit Beginn des Gazakrieges, der durch das brutale Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 (bei dem auch mehrere israelische Journalisten starben) ausgelöst wurde, getötet worden sind. 

 

Bis zum heutigen Tag kamen – je nach Zählung –  zwischen 108 und 159 Journalisten und Redaktionsmitarbeitende ums Leben. Damit starben in dem Streifen Land, der gerade mal so groß ist wie das Stadtgebiet München, in den vergangenen acht Monaten mehr Journalisten als im gesamten Jahr 2022 auf der ganzen Welt. Während laut Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums schon über 37.000 Menschen gestorben sind, was rund 1,6 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht, ist die Rate unter Journalisten alarmierend höher: Es ist etwa jeder Zehnte.

 

Ein "tödliches Muster"?

 

Die Nichtregierungsorganisation Committee to Protect Journalists spricht von “einem tödlichen Muster” von Angriffen auf Journalisten. Beim Internationalen Strafgerichtshof sind schon mindestens drei Anzeigen gegen den Staat Israel anhängig. Der Vorwurf: Kriegsverbrechen gegen Journalisten und vorsätzliche Zerstörung von Redaktionsräumen.

 

Es ist ein schwerwiegender Verdacht, der für Israel zu Unzeit kommt: Der UN-Menschenrechtsrat wirft Israel – wie auch der Hamas – bereits Kriegsverbrechen vor. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanyahu und seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant beantragt. 

 

In einer viermonatigen Recherche haben paper trail media und zwölf Medienhäuser aus aller Welt – koordiniert von der französischen Journalistenorganisation Forbidden Stories – die Umstände der überdurchschnittlich hohen Todeszahlen untersucht. Bei der Recherche, die in diesen Tagen weltweit unter dem Titel “The Gaza Project” veröffentlicht wird, haben erstmals seit dem 7. Oktober auch arabische und israelische Medien Seite an Seite recherchiert. Das Ergebnis legt nahe, dass Israel den Tod palästinensischer Journalisten mindestens in Kauf genommen und in einigen Fällen womöglich sogar bewusst darauf abgezielt hat. 

 

So hat die israelische Armee – nach Eigenwerbung “die moralischste Armee der Welt” — in den vergangenen Monaten mindestens 14 Journalisten angegriffen und teils sogar getötet, die durch entsprechende Schriftzüge auf ihren Splitterschutzwesten klar als Berichterstatter erkennbar waren. Als Pressefahrzeuge gekennzeichnete Autos wurden beschossen und augenscheinlich von Panzern überrollt und zerstört, Pressegebäude wurden offenbar gezielt ins Visier genommen. In mindestens fünf Fällen wurden Reporter oder Kameras während oder kurz nach Liveübertragungen beschossen. 

 

Israel weist die Vorwürfe gezielter Angriffe gegen Journalisten vehement zurück: “Das israelische Militär hat Journalisten niemals vorsätzlich angegriffen und wird dies auch niemals tun.” Allerdings könnten Journalisten “bei Luftangriffen oder operativen Maßnahmen gegen militärische Ziele zu Schaden gekommen sein”.

 

 

 

In vielen Fällen rechtfertigte die israelische Armee sich nach Bekanntwerden damit, dass es sich bei den getöteten Journalisten in Wahrheit um Terroristen gehandelt habe. So auch im Fall von Hamza Al-Dahdouh.

 

Nachdem eine offenbar von einer israelischen Drohne abgefeuerte Rakete das Auto des Journalisten in Stücke gerissen hatte, erklärte das Militär, “einen Terroristen” getötet zu haben, der ein Flugobjekt gesteuert habe, das eine “unmittelbare Bedrohung” für israelische Soldaten dargestellt habe. Dabei befanden sich im Umkreis von etwa zwei Kilometern keine israelischen Soldaten, als die tellergroße Drohne der Journalisten in der Luft war, wie eine Recherche der Washington Post jüngst zeigte.

 

Drei Tage nach dem Tod der Journalisten veröffentlicht das Militär dann ein pixeliges Dokument, das angeblich im Gazastreifen gefunden worden war: Ganz oben prangt das Logo des bewaffneten Arms der Terrorgruppe “Islamischer Dschihad”. In einer Tabelle ist Al-Dahdouhs Name zu lesen, daneben die Ziffer 224. So viele Dollar soll der junge Mann von der Terrorgruppe erhalten oder an sie überwiesen haben – wofür ist unklar.

 

Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Das israelische Militär will auch keine Fragen dazu beantworten: Weder wo genau es gefunden wurde, noch wann genau. Die Europäische Union erklärt, diese Dokumente nie gesehen zu haben. 

 

“Die Beweislast Israels wiegt schwer, das Land hat diesbezüglich bisher absolut versagt”

 

Mehrere von paper trail media zum Fall befragte Völkerrechtsexperten bestätigen: Selbst, wenn Al-Dahdouh geringe Geldsummen von einer Terrorgruppe erhalten oder an sie gezahlt hätte, wäre das kein Grund gewesen, dass er seinen Schutz als Zivilperson verlöre. 

 

Die Menschenrechtsexpertin Irene Khan, UN-Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit, sieht im Vorgehen des israelischen Militärs ein Muster: nach dem Tod von Journalisten werde behauptet, es habe sich um Terroristen gehandelt, eine unabhängige Untersuchung werde aber blockiert. “Die Beweislast Israels wiegt schwer, das Land hat diesbezüglich bisher absolut versagt”, erklärte Khan im Gespräch mit paper trail media.

 

Es handle sich um “einen Versuch, das Morden und gezielte Angriffe auf Journalisten zu rechtfertigen”, erklärte Al Jazeera nach dem Tod Al-Dahdouds. Seine Familie verweist darauf, dass ihm noch kurz vor seinem Tod vom israelischen Militär gestattet wurde, den Gazastreifen zu verlassen. Wäre er ein bekannter Terrorist gewesen, wäre das wohl kaum der Fall gewesen.

 

Es ist auffällig, dass die Zahl der getöteten Journalisten ausgerechnet bei jenen Medien besonders hoch ist, die das israelische Militär als Hamas-nah ansieht: So starben insgesamt 23 Journalisten des Hamas-eigenen Medien- und Propagandanetzwerks Al-Aqsa, außerdem mindestens vier freie und feste Mitarbeiter von Al Jazeera. Dem katarischen Sender wird vorgeworfen, “Hetze gegen Israel” zu verbreiten. Al-Aqsa-Journalisten gerieten bereits bei früheren Angriffen auf den Gazastreifen ins Visier des israelischen Militärs. 

 

Im Rahmen der “Gaza Project”-Recherchen bestätigt Oliver Rafowicz, Sprecher des israelischen Militärs, nun erstmals öffentlich, dass die Armee Al-Aqsa-Journalisten per se als Terroristen – und damit legitime Ziele – sieht: Es gebe “keine Unterscheidung” zwischen dem Medienhaus und der Hamas. Sämtliche Journalisten würden als “aktive Mitglieder des Militärapparats der Hamas” angesehen. 

 

Es ist eine Sichtweise, die nicht vom Völkerrecht gedeckt ist, wie mehrere von paper trail media befragte Rechtsexperten erklärten. “Wenn ein Journalist für Hamas-nahe Medien aktiv wird, etwa Propaganda verbreitet, Hetze tätigt oder von der Hamas finanziert wird, aber nicht an unmittelbaren Kampfhandlungen teilnimmt, darf diese Person nicht militärisch bekämpft werden und bleibt Zivilperson”, sagt Christian Marxsen, Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Außerdem seien auch die meisten israelischen Militär-Korrespondenten mit dem israelischen Militär verbunden, wie die Al-Aqsa-Korrespondenten mit der Hamas,  sagt Gideon Levy, einer der Herausgeber der israelischen Tageszeitung Haaretz. Das sei aber noch lange “kein Freibrief, sie zu töten”. 

 

Etliche Journalisten im Gazastreifen gerieten womöglich schon allein dadurch ins Visier, weil sie  beruflich – wie auch paper trail media für diese Recherche – mit der Hamas kommunizierten. Denn laut Medienberichten hilft ein auf Künstlicher Intelligenz basierendes Programm namens “Lavender” dem Militär bei der Auswahl von Zielen. Das System analysiert demnach riesige Datenmengen, etwa Anrufe, Textnachrichten oder die Mitgliedschaft in Chatgruppen. Durchaus denkbar, dass ein Journalist deshalb als Ziel markiert wird, räumen mehrere israelische Geheimdienstmitarbeiter im Gespräch mit dem “Gaza Project”-Team ein.

 

 

Israel hat den Gazastreifen schon vor Monaten für ausländische Journalisten abgeriegelt. Westliche Medien sind für Berichterstattung auf palästinensische Journalisten angewiesen. Doch die sterben in kaum erklärbarem Tempo. Etliche von denen, die noch leben, bekommen Drohungen, viele fliehen, alle haben Angst. Splitterschutzwesten mit der dicken Aufschrift “PRESS”, werden längst nicht mehr nur als Schutz wahrgenommen, sondern offenbar auch: als Zielscheibe.

 

Laut mit militärischen Drohnen betrauten Experten sind die Kameras der Drohnen teils so gut, dass die Piloten, die fernab in einer Kommandozentrale sitzen, Details bis zur Größe eines Daumens erkennen könnten. Wie also können sie da Pressewesten übersehen? 

 

Das “Gaza Project”-Team hat insgesamt 18 Fälle von Journalistinnen und Journalisten gefunden, die seit Ausbruch des Krieges von israelische Drohnen angegriffen, teils sogar getötet wurden. Auf Anfrage bestreitet das israelische Militär, Journalisten gezielt anzugreifen. Allerdings könnten Journalisten “bei Luftangriffen oder operativen Maßnahmen gegen militärische Ziele zu Schaden gekommen sein”.  Dutzende Todesfälle würden intern untersucht. Welche Fälle dies genau sind, verrät das israelische Militär mit wenigen Ausnahmen nicht. Die Ergebnisse der Untersuchungen bleiben in der Regel Geheimsache. 

 

Eines aber ist bekannt: In den vergangenen 20 Jahren musste sich kein einziger israelischer Soldat vor Gericht für den Tod eines Journalisten verantworten.

 

Mitarbeit: Yuval Abraham, Mariana Abreu, Walid Batrawi, Farah Jallad, Hoda Osman, Lea Peruchon, Majid Zerrouky 

 

 

The Gaza Project

 

Am “The Gaza Project”, das von der französischen Organisation Forbidden Stories und paper trail media initiiert und koordiniert wurde, waren 50 Journalistinnen und Journalisten beteiligt. Gemeinsam sind sie die langen Listen während des Gazakriegs getöteter Journalistinnen und Journalisten durchgegangen und haben Fall für Fall analysiert. Sie haben Beweismaterial gesammelt und gemeinsam mit an die 50 internationalen Experten besprochen, um jene Fälle und Ereignisse zu filtern, in denen es Hinweise auf einen gezielten Angriff gibt. Sie sprachen sie mit über 120 Zeugen vor Ort, mit Soldaten der israelischen Armee, Reservisten, Deserteuren und Völkerrechtlern. Neben der Expertengruppe Earshot unterstützten weitere Nichtregierungsorganisationen wie Bellingcat und Amnesty International. Satellitenbilder wurden von Planet, Google Earth Pro und Maxar bezogen.